Die Sanierung des schiefsten Fachwerkhauses
der Welt

Mit dem Bekanntheitsgrad des schiefen Turms von Pisa kann das Bürgerhaus - eines der ältesten Wahrzeichen der Stadt Ulm - vielleicht nicht mithalten. Immerhin bringt es das ungewöhnliche Bauwerk mit dem vielversprechenden Namen "Schiefes Haus" aber auf eine Neigung zwischen neun und zehn Grad. In manchen Zimmern ergibt sich dadurch ein Höhenunterschied von 40 cm. Weil die Fundamente des südlichen Gebäudeteils direkt am Ufer des kleinen Flüßchens Blau liegen, sackte das fünfgeschossige alemannische Fachwerkhaus in den Jahren nach seiner Errichtung (Mitte des 15. Jahrhunderts) zur Wasserseite hin immer weiter ab. dass dem ehemaligen Schiffmeister-Haus in der Schwörhausgasse für die mangelnde Standfestigkeit Ruhm gebührt, erkannten auch die Verfasser des Guinness-Buchs der Rekorde.

Ein Relikt aus alten Tagen stellt selbstverständlich auch ein gefundenes Fressen für Bauhistoriker dar. dass deren Appetit zumindest im Ulmer Fall gestillt werden konnte, ist nicht zuletzt Günter Altstetters Verdienst. 1994 kaufte der Münsteraner Architekt das denkmalgeschützte Gebäude, das nach dem Krieg Eigentum der Stadt und einer städtischen Wohnbaugesellschaft geworden war, um es zu einem kleinen, stilvollen Hotel umzubauen. Die 290 000 Mark Kaufpreis machten dabei aber den kleinsten Teil seiner Investition aus: Von 3 auf 3,5 Millionen Mark sollten die Kosten für Erwerb und Sanierung in den darauffolgenden Jahren noch steigen.

Sanierung des schiefsten Fachwerkhauses
Der Flur des ersten Obergeschosses vor der Sanierung

Sanierung des schiefsten Fachwerkhauses
Auf unsicherem Boden: Eines der Zimmer vor der Sanierung

Gleich zu Beginn des Projekts war nämlich eines unumgänglich: Bis aufs Fachwerk-Gerippe mußte das Gebäude im Ulmer Fischerviertel bloßgelegt werden, um es komplett zu sanieren. Drei bis vier Lagen Schutt wurden beispielsweise in der Südseite gefunden. Bis zu einem halben Meter hoch lag der Dreck unter den Bodenbrettern. Offensichtlich hatten die meisten der vorherigen Bewohner kontinuierlich versucht, durch Aufschütten die von ihnen als unwohnlich empfundene Schräge auszugleichen. Ohne es zu wissen, hatten die damaligen Hausherren dabei durch das zusätzliche Gewicht die Absenkungstendenzen noch verstärkt.

Nachdem das "Schiefe Haus" von all seiner Last befreit worden war, konnten sich dann Bauhistoriker und Statiker zum ersten Mal ein detailliertes Bild über die Eigenheiten des Gebäudes und speziell über die Ursachen des ständigen Absinkens machen. Jeden Bestandteil ließ Bauherr Altstetter genau untersuchen und auf weitere Verwendbarkeit prüfen. Denn der Eigentümer wollte den historischen Charakter des Gebäudes, dessen Errichtung durch frühere Holzuntersuchungen auf 1443 datiert worden war, auf jeden Fall bewahren. Den zukünftigen Gästen sollte mittelalterliches Flair geboten werden - bereichert um zeitgemäße Annehmlichkeiten, die aber nicht in die Bausubstanz eingreifen sollten.

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Rähme und Ständer vor der Sanierung

Erstaunt waren auch die Fachleute, als sie sich an die Begutachtung des ersten Stocks machten: Die erste Etage entpuppte sich als eindeutig älter als die restlichen Gebäudeteile. Das ursprüngliche Haus mußte offensichtlich einmal nur halb so lang und halb so breit gewesen sein. Wer auch immer das Haus später erweiterte, nahm dabei einen höchst diffizilen Umbau auf sich. Statt den alten Bau wie allgemein üblich einfach abzureißen und die brauchbaren Teile wiederzuverwenden, wurde das alte Haus um- und unterbaut.

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Eines der Schmuckstücke: das Gewölbezimmer im Obergeschoß

Höchstwahrscheinlich lag das an den damaligen Richtlinien für die Vorkragung (also das Herausragen der oberen Geschosse über das Erdgeschoß). Die Richtlinien zur Zeit der Vergrößerung des "Schiefen Hauses" wurden immer strenger. 1427 waren zum Beispiel nur noch höchstens 25 Zentimeter erlaubt. Da die Vorkragung an der Ostseite des "Schiefen Hauses" jedoch heute bei über einem Meter liegt, war es damals offensichtlich möglich, durch einen aufwendigen Umbau - statt eines einfachen Neubaus - die Regelungen zu umgehen. Für die damaligen Eigentümer ergab sich so ein enormer Raumgewinn.

Die Vorkragung von etwa 2 Metern an der Südseite dürfte aber, so befanden die Statiker, unter anderem mit für die Schieflage des Gebäudes verantwortlich sein. Hinzu kommt, dass der Kies-Untergrund, der auf der Nordseite des Gebäudes noch sehr fest ist, zur südlichen Seite hin abfällt - über ihm lagern schlechtere Schichten, die nachgeben. Bei der Freilegung des Gerippes stellten die Experten sogar fest, dass die zwei Meter Überhang auf der Südseite, die durch sogenannte "Knaggen", also Schrägbalken, die sich auf der Erdgeschoßwand abstützten, gesichert werden sollten, für eine zu große Belastung und schließlich den Durchbruch von drei etagentragenden Querbalken im Haus sorgten.

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Klein, aber fein: eines der elf Gästezimmer

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Annehmlichkeiten inklusive: eines der Badezimmer

Größtes Gebot bei der Sanierung, das versteht sich von selbst, war also die Sicherung der Statik. Den Vorstellungen des neuen Hausherrn entsprechend, sollte die Schräge jedoch erhalten bleiben. Also wurde die unsichere Konstruktion in sich festgezurrt. Dazu erhielten Dachstuhl und Deckenebenen eine Bandage aus diagonal angebrachten Stahlbändern, die der Zugrichtung entgegenwirken. Die Fußböden sind deshalb auch weiterhin schief. Lediglich die elf neuen Bäder wurden weitgehend begradigt. Mit Ausgleichsestrich wurden die Höhenunterschiede behoben. Eine Fußbodenheizung unter kleinen Ton-Mosaiken sorgt für den nötigen Komfort in einem Hotel der Spitzenklasse. Die Kupferrohr-Fußbodenheizung mit Unterflurvektoren in den Gästebädern, Dielen, Frühstücks- und Seminarräumen ermöglichte dem Bauherrn aber vor allem eines: der Denkmalpflege genüge zu tun. In die Fußbodenkonstruktion mit schlichten Holzdielen wurden auch die sanitären Leitungsrohre verlegt. Ein Anbohren der Wände und Balken für ein Heizungssystem und andere notwendige "Technik" blieb also aus.

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Fachwerk-Laube auf altem Erdbunker

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Giebel und Anbau 1995

Sogar im tonnengewölbten gotischen Kellergeschoß mit dem früheren "Kretten-Weber"-Raum, in dem in längst vergangenen Tagen Fischer ihre Netze flickten, wird heute flächendeckend geheizt. Dazu ließ der Eigentümer den Keller mit Lehm gegen Fluß- und Grundwasser abdämmen. Das schont gleichzeitig die alte und neue Bausubstanz; die mit Lehm verkleideten Wände bleiben trocken, ohne dass sie austrocknen.

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Die südöstliche Ecke des sanierten Schiffmeister-Hauses

Das Ergebnis der jahrelangen Bemühungen ist heute eine Nobelherberge mit halböffentlichem Tagungsraum, Küche und Kühlraum, aber ohne eigene Gastronomie. Und nicht nur bei den elf Gästezimmern in den vier oberen Etagen konnte Hausbesitzer Altstetter als Architekt eigene Pläne schmieden und umsetzen. Jedes der Gästezimmer mit den originellen Türschildern "Himmel", "Turm" oder "Ulmer Spatz" ist heute ein Unikat. Die Möbel wurden ganz individuell für die kleinen Räume angefertigt - und vor allem gleichen sie die Schräge der Bodenflächen aus. Doch selbst in der Horizontalen, in der kuscheligen Wärme der Gästebetten, wird keiner der Besucher die Neigung unter sich vergessen:

Eines der ungewöhnlichen Details dieser Übernachtungsmöglichkeit sind die Wasserwaagen im Kopfteil der Betten.

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