Berühmtes Kalendermotiv:
Das Rathaus von Michelstadt im Odenwald
Weit über 500 Jahre alt ist das Rathaus der Kreisstadt Michelstadt im Odenwald. Das Erstaunliche ist nicht das Alter an sich, sondern die Bauweise. Es ist im Wesentlichen ein Fachwerkhaus, also ein Haus, dessen tragenden Elemente nicht aus Stahlbeton, sondern aus Eichenholz bestehen. Wer kann sich vorstellen, dass ein modernes Rathaus aus Beton und Glas noch in 500 Jahren nicht nur steht, sondern auch voll funktionsfähig ist? Niemand! Zum Erstaunlichen kommt auch das Verblüffende, denn es ist ein Fachwerkbau ganz besonderer Konstruktion. Die Westfront, also das berühmte Kalender- und Postkartenmotiv, ruht auf drei mächtigen Eichenständern, die ihrerseits eine offene Laube begrenzen.
Diese Laube ist Teil eines ursprünglich völlig offenen Ergeschosses, in dem öffentliche Gerichtsverhandlungen stattfanden und Marktleute bei Schlechtwetter ihre Stände aufbauen konnten. Doch nicht nur die drei tragenden Eichenständer geben dem Rathaus sein Gesicht, sondern auch die Erkertürmchen und die später eingebaute Uhr und die rote Schindelbedachung. Zimmerleute und Architekten werden das Gebäude mit ganz anderen Augen sehen, als der Laie, der sich nur an der schönen Optik erfreut. Die Fachleute können anhand einer Rekonstruktionsskizze erkennen, wie das Rathaus im 15. Jahrhundert ausgesehen hat und sie können dann nachvollziehen, was im Laufe der Jahrhunderte an Umbauten hinzugekommen ist. Immer wieder mußten die Michelstädter Geld für die ihr Rathaus aufbringen, um das Dach neu zu decken, Anbauten zu entfernen, Reparaturen auszuführen.
1702 mußten 200 Gulden investiert werden, das waren 20 % des Stadtbudgets von jährlich 1.000 Gulden. Der große Saal im ersten Geschoß diente damals wie heute als Ratssaal. Die untere Etage wurde zwischenzeitlich als "Spritzenhaus" benutzt, also als "Garage" für die Feuerwehrspritzen. Damit nicht genug, was die universelle Verwendbarkeit des Rathauses betrifft: Es wurden sogar Arrestzellen eingebaut, denn "Malefiz-Persohnen" mußten auch damals sicher verwahrt werden. Dass das Michelstädter Rathaus heute noch steht, ist der Heimatliebe von sechs Ratsherren zu verdanken, die sich 1845 gegen drei Ratsherren durchsetzen, die das Rathaus abbrechen lassen wollten. Ob die sechs Ratsherren damals schon geahnt haben, dass dieses Rathaus im 20. und 21. Jahrhundert der Anziehungspunkt für touristische Völkerscharen sein würde?